Die Bürgermorde von Altötting am 28. April 1945

Ein tragisches Beispiel des NS-Terrors in den letzten Kriegstagen

Als im Frühjahr 1945 zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft und fast sechs Jahre Krieg zu Ende gingen, erlebte Altötting noch wenige Tage vor der Befreiung ein tragisches Beispiel des NS-Terrors. Der Versuch, die örtlichen Machthaber der Partei aus eigener Kraft unschädlich zu machen und eine kampflose Übergabe der Stadt an die Amerikaner vorzubereiten, endete mit dem Tod von insgesamt sieben Bürgern. 

Eine organisierte Widerstandsbewegung gegen das NS-Regime hatte es in Altötting zwar nicht gegeben, doch viele Einwohner und darunter besonders die Honoratioren behielten wie vor 1933 eine bayerisch-konservative und überzeugt katholische Grundeinstellung bei und standen daher den radikalen und antireligiösen Nationalsozialisten ablehnend gegenüber.

Die Bestrebungen der Partei, die Wallfahrt einzuschränken und zu behindern sowie die Abwertung Altöttings als regionales Zentrum - der Landkreis wurde von der NS-Kreisleitung in Mühldorf "mit regiert" - stießen auf die zunächst noch innere Opposition der Einwohnerschaft. Als sich in den letzten Kriegsmonaten die militärische Niederlage Deutschlands immer klarer abzeichnete, gab es vorsichtige Vorbereitungen auf den "Tag X". Treibende Kraft dabei war der erst im Juli 1944 ernannte Landrat Josef Kehrer, er stützte sich auf einige Gleichgesinnte wie den ehemaligen Bürgermeister Gabriel Mayer, den Verleger Josef Geiselberger, den Redakteur Heinrich Haug und den Verlagsbuchhändler Adam Wehnert, der als Kreisbrandführer dafür sorgte, dass der 1. Zug der Altöttinger Feuerwehr unter dem Kommando des Lagerhausverwalters Hans Riehl aus zuverlässigen "Anti-Nazis" gebildet wurde. Sie sollten als Hilfspolizisten eingesetzt werden.

Ende April 1945 stand der Zusammenbruch der NS-Herrschaft unmittelbar bevor. Amerikanische Truppen stießen bei nur geringem Widerstand rasch nach Süden, flüchtende Wehrmachteinheiten passierten täglich den Inn. Alt- und Neuötting selbst waren aber nicht mit Kampftruppen belegt, sondern nur mit mehreren tausend Verwundeten in den Hilfslazaretten. Das Armeekommando hatte auf Betreiben des Oberfeldarztes Dr. Thyroff Altötting und Neuötting zur unverteidigten Lazarettstadt erklärt, eine Anordnung, die aber von der NS-Gau- und Kreisleitung nicht anerkannt wurde, die auf eine Verteidigung der "Inn-Hauptkampflinie" bestanden.

In dieser Situation rief die Münchner "Freiheitsaktion Bayern" (FAB) in der Nacht zum 28. April 1945 zum Sturz des NS-Regimes auf. Allerdings konnte die von Hauptmann Rupprecht Gerngroß geführte FAB nicht wie geplant alle Münchner Partei- und Wehrmachtsführungsstellen besetzen, sondern nur kurzzeitig die Rundfunksender Freimann und Erding.

Portrait von Landrat Josef Kehrer, ein Opfer der Bürgermorde von Altötting am 26. April 1945.

Der nächtliche Aufruf zum Aufstand unter dem Stichwort "Fasanenjagd" (Nazi-Bonzen wurden mit dem Spitznamen "Goldfasanen" bezeichnet), fand vereinzelt in bayerischen Orten Resonanz, auch in Altötting, wo Landrat Kehrer (Foto) als Bekannter von Gerngroß sofort handelte.

In den frühen Morgenstunden ließ er durch die ihm unterstellte Polizei und die Hilfspolizisten der Feuerwehr bekannte Nazi-Funktionäre verhaften. Der Altöttinger Bürgermeister Karl Lex beging Selbstmord, als er die Gendarmen auf sein Haus zukommen sah. Einigen, so dem DAF-Kreisobmann Georg Schmid, gelang die Flucht. Insgesamt sechs Nazis wurden in der Arrestzelle des Gendarmeriegebäudes (Foto) am Landratsamtshof (heute Kreuzweg) inhaftiert. 

Das Gendameriegebäude in Altötting im Jahr 1945.

Fataler Weise konnten die Verhafteten durch das Zellenfenster genau beobachten, wer an diesem Samstag Vormittag im Landratsamt (Foto) aus und ein ging. Aus ihren Angaben wurde später die sogenannte "Todesliste" zusammengestellt, die Grundlage für die Erschießungen durch die SS am selben Nachmittag. Denn der Altöttinger Aufstand kam schon bald ins Stocken: Männer und Waffen für weiterführende Aktionen standen nicht zur Verfügung, der von Kehrer um Unterstützung gebetene Leiter des Wehrmeldeamts, Oberstleutnant Hans Hecht, wollte sich erst bei seiner vorgesetzten Dienststelle in Traunstein rückversichern. Als von dort die Nachricht von der Niederschlagung der Freiheitsaktion Bayern kam, herrschte bei den Aufständischen Ratlosigkeit. Inzwischen hatte die Nachricht von den Altöttinger Ereignissen auch das Lazarett im Neuöttinger Stieglerbräu erreicht. Der dort als Patient einquartierte Oberstleutnant Karl Kaehne bildete eine Wehrmachtsstreife und fuhr zum Landratsamt. Dort traf er gegen 11 Uhr ein. Landrat Kehrer wollte mit den Offizieren alleine verhandeln, doch unmittelbar nachdem er mit ihnen sein Dienstzimmer betreten hatte fielen Schüsse und Kehrer stürzte mit einer tödlichen Kopfwunde zu Boden.

Das Landratsamtsgebäude 1945 in Altötting.

Ob der Landrat, wie Kaehne behauptete, mit seiner Dienstpistole Selbstmord begangen hatte, ist zweifelhaft, in jedem Fall war damit die Altöttinger Freiheitsaktion endgültig gescheitert. Kaehne befreite noch die inhaftierten NS-Funktionäre und kehrte dann nach Neuötting zurück.

Inzwischen hatten sich Einheiten der in Seibersdorf stationierten SS-"Kampfgruppe Trummler" nach Altötting in Marsch gesetzt. Sie waren von dem DAF-Obmann Schmid alarmiert und von NS-Kreisleiter Fritz Schwägerl zum Landratsamt beordert worden.

Nach dem Eintreffen der SS und des Kreisleiters begannen ab 13 Uhr die Verhaftungen von tatsächlich oder vermeintlich am Aufstand Beteiligten. Grundlage dafür war eine zunächst neun, später elf Namen umfassende "Todesliste", die auf den Beobachtungen der sechs Nazis im Polizeiarrest basierte. Einem Teil der Gesuchten gelang rechtzeitig die Flucht, allerdings ließ der Anführer des SS-Kommandos, Obersturmbannführer Werner Hersmann, die Ehefrauen der entkommenen Dr. Siegmund Scheupl und Heinrich Haug, sowie den Bruder von Gabriel Mayer als Geiseln festnehmen.

 

Portrait von Adam Wehnert, ein Opfer der Bürgermorde von Altötting am 26. April 1945

Sie wurden wie die übrigen fünf Gefangenen, 

Adam Wehnert (Foto)

Josef Bruckmayer (Foto)

Hans Riehl (Foto)

Msgr. Adalbert Vogl (Foto) und 

Martin Seidel (Foto) 

in den Landratsamtshof getrieben und von SS-Posten bewacht.

Eine Untersuchung oder gar ein ordentliches Gerichtsverfahren zur Feststellung der tatsächlichen Beteiligung am Altöttinger Aufstandsversuch gab es nicht.

Die drei Geiseln wurden nach einigen Diskussionen zwischen den anwesenden NS- und SS-Leitern in die Arrestzelle abgeführt. Sie sollten erschossen werden, wenn sich ihre Ehemänner bzw. der Bruder nicht binnen drei Tagen stellen würden.

Portrait von Josef Bruckmayer, ein Opfer der Bürgermorde von Altötting am 26. April 1945

Nach dem Augenzeugenbericht des Polizeibeamten Simon Mayerhofer, der inzwischen wegen seiner Teilnahme an den Verhaftungen der Nazi-Funktionäre ebenfalls festgenommen worden war, rief der SS-Führer Hersmann dann die fünf übrigen Gefangenen zu sich, fragte ob sie sich des Hochverrats schuldig bekennen würden, was alle mit "Nein" beantworteten, und verkündete ihnen dann brüllend, dass sie zum Tode verurteilt seien und sofort erschossen würden.

Potrait von Hans-Riehl, ein Opfer der Bürgermorde von Altötting am 26. April 1945

Unmittelbar darauf wurden die fünf Männer über den Hof in den Landratsamtsgarten getrieben und zum Teil noch im Laufen durch Genickschüsse ermordet. Diese Bluttat geschah gegen 15.30 Uhr, bald darauf rückte die SS aus Altötting ab.

Mitgeschleppt wurden die drei Polizisten Mayerhofer, Hölzl und Gschwendtner, die am Vormittag die Befehle des Landrat ausgeführt hatten.

Auch diese drei wurden am folgenden Tag zum Tode verurteilt, entgingen aber dank der Intervention eines höheren Polizeioffiziers der Hinrichtung.

Ein letztes Todesopfer gab es aber am folgenden Dienstag, dem 1. Mai, in Altötting doch noch. 

Portrait von Monsignore Adalbert Vogl, ein Opfer der Bürgermorde von Altötting am 26. April 1945

Mittlerweile hatten US-Truppen das Nordufer des Inn erreicht und forderten über Lautsprecher die Kapitulation von Alt- und Neuötting. Als Zeichen der Übergabe sollten in der Nacht alle Lichter eingeschaltet werden.

Die Bürger kamen dieser Aufforderung nach, vereinzelte fanatische Wehrmacht- und SS-Soldaten wollten die Beleuchtung aber verhindern.

Ein Luftwaffenleutnant Merkel hielt mit drei Mann das Elektrizitätswerk der Firma Esterer besetzt.

Als Arbeiter und Anwohner des Werks vor den Toren forderten, die Stromversorgung aufrechtzuerhalten, ließ Merkel wahllos aus den Demonstranten den Elektromonteur Max Storfinger (Foto) herausgreifen und sofort erschießen.

Portrait von Martin Seidel, ein Opfer der Bürgermorde von Altötting am 26. April 1945

Das weitere Schicksal der Täter ist typisch für die Aufarbeitung von NS-Verbrechen in der Nachkriegszeit:

  • Kreisleiter Fritz Schwägerl beging noch vor Kriegsende Selbstmord.
  • Oberstleutnant Kaehne wurde zwar im Spruchkammerverfahren 1948 als "Hauptbelasteter" zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt, im Strafverfahren vor dem Schwurgericht aber wegen "erwiesener Unschuld" am Tod des Landrats Kehrer freigesprochen. Die ihn begleitenden Offiziere wurden gar nicht erst ermittelt.
  • Leutnant Merkel wurde 1953 wegen der Ermordung Max Storfingers zu 18 Monaten Zuchthaus verurteilt, bald darauf aber amnestiert. Ihm wurde "Befehlsnotstand" zugebilligt.
  • "Befehlsnotstand" war 1956 auch die Begründung für den Freispruch des SS-Untersturmführers Albrecht, der an den Erschießungen im Landratsamtsgarten teilgenommen hatte und danach im Burghauser Wacker-Werk drei weitere Widerständler exekutierte.
  • Albrechts Vorgesetzte Werner Hersmann und Olaf Sigismund wurden 1950 wegen Totschlags zu acht und fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, Hersmann erhielt 1958 wegen der Beteiligung an Massenmorden in Rußland weitere 15 Jahre Zuchthaus.
  • Die Altöttinger NS-Funktionäre, die mit der "Todesliste" die Grundlage für die Bürgermorde geschaffen hatten, wurden in ihren Spruchkammerverfahren als "Belastete" oder "Minderbelastete" eingestuft und mit geringen Sühneleistungen belegt.

Nach dem Krieg wurde an der Stelle, an der die fünf Altöttinger ermordet worden waren, eine Gedenkstätte (Foto) errichtet, die 1959 zur Rastkapelle (Foto) ausgebaut und in die Stiftskirche integriert wurde. Alljährlich am Jahrestag gedenkt die Stadt der Opfer mit einem Gottesdienst. Außerdem sind nach den Opfern des 28. April 1945 Straßen in der Stadt benannt worden.

Ein Kreuz an der Erschiessungsstätte zur Erinnerung an die Bürgermorde von Altötting am 26. April 1945.

Gedenkstunde zum 60. Jahrestag der Bürgermorde von Altötting

Am 28. April 2005 fand in Altötting eine Gedenkstunde der Stadt Altötting zum 60. Jahrestag der Ereignisse des 28. April 1945 statt. Stadtrat Peter Becker hielt zu diesem Anlass eine Ansprache mit dem Titel "Der 28. April 1945 in Altötting - Vom schwierigen Umgang mit unserer Geschichte".

 

Die Ansprache von Peter Becker können Sie hier downloaden.

Die Rastkapelle zur Erinnerung an die Bürgermorde von Altötting am 26. April 1945.